Jedes Jahr setzen deutsche Bauern Tausende Tonnen Spritzmittel ein, um
ihre Ernte vor Schädlingen und Unkräutern zu schützen. Auf fast 1300
Hektar Fläche zeigen Bauern aus Nord-Württemberg, dass es auch ohne
teure Pflanzenschutzmittel geht. Der Erfolg gibt ihnen recht.
Eppingen - Wenn Reinhard Hecker auf einem seiner Felder steht, dann wird schnell
klar, dass er seinen Beruf nicht verfehlt hat. „Sehen Sie sich diese
Ähre an“, sagt er dann und zupft an einem Getreide-Pflänzchen. „So
filigran und gleichzeitig so kräftig und so gesund. Ein echter Sportler!
Fast wie ein Kunstwerk!“
Hecker – Ende vierzig, muskulöse Arme, breiter Akzent – ist kein Philosoph oder Künstler, sondern Landwirt und dabei ziemlich erfolgreich. In seinem Hof, den man auch mit einem
südfranzösischen Gut verwechseln könnte, steht ein großer grüner
Schlepper, daneben ein bayrischer Geländewagen und ein ebensolches
Geländemotorrad. Drum herum erstrecken sich rund 200 Hektar Äcker, die
Hecker in vierter Generation bewirtschaftet. Für süddeutsche
Verhältnisse ist der Landwirt aus Eppingen im Kraichgau damit ein echter
Großbauer. Ein ganz gewöhnlicher Vertreter seiner Zunft ist er aber
nicht.
Seine 200 Hektar Land beackert er nämlich komplett ohne
Spritzmittel. Weizen, Roggen, Gerste, Dinkel, Emmer und Einkorn gedeihen
bei ihm ohne jene chemischen Wundermittel, auf die fast alle seiner
Berufskollegen vertrauen, um ihre Ernte im Herbst in die Scheune
einzufahren. „Ich mag keine Pestizide“, sagt er. „Ich will ohne sie
auskommen.“
Absolute Ausnahme
Ziel der Bundesregierung ist es, auf rund 2,5 Millionen Hektar Äckern
– was 20 Prozent der gesamten deutschen Anbaufläche entspricht – ohne
Spritzmitteln auszukommen. Wann dieses Ziel erreicht sein soll, wurde
offengelassen. „Bewusst“, sagen manche. Denn dass Bauern nicht spritzen,
ist die absolute Ausnahme. Selbst im Biolandbau ist der chemische
Pflanzenschutz mit Einschränkungen erlaubt.
Bauer Hecker sitzt auf seiner Veranda und wagt eine Erklärung. Wenn
man sich normale Felder anschaue, laufe da einiges schief, sagt der
Kraichgauer, der seit mehr als 20 Jahren im Geschäft ist. Die Bauern
hätten sich zu weit von ihren Wurzeln entfernt, nämlich die Natur zu
deuten und den Anbau darauf auszurichten. Ein Beispiel: Das Korn auf den
Äckern sei heute viel zu eng gepflanzt, sagt er. Überall stünden die
gleichen Sorten. Nach jedem Regen hänge die Feuchtigkeit tagelang an den
Pflanzen. Schädlinge und Pilzsporen fühlten sich in so einem Klima
richtig wohl, und weil überall das Gleiche angebaut werde, verbreiteten
sich Krankheiten rasend schnell in den Feldern. Früher hätte man so
etwas nie gemacht“, sagt er. „Aber heute?“ Er zuckt mit den Schultern:
„Man kann das ja alles mit Chemie behandeln.“
32 551 Tonnen chemische Wirkstoffe für den Pflanzenschutz wurden im
Jahr 2013 nach Daten des Bundesamts für Verbraucherschutz und
Lebensmittelsicherheit (BVL) in Deutschland ausgebracht. Die realen
Abgabemengen sind viel höher, weil Trägersubstanzen von der Statistik
nicht erfasst werden. Der überwiegende Teil der Mittel wird von Bauern
versprüht, ein kleinerer Teil in Gärtnereien oder von Privatleuten
eingesetzt. Mit einem Anteil von 40 Prozent nehmen Unkrautvernichter in
Deutschland den Löwenanteil ein.
Das derzeit wegen seiner möglicherweise krebserregenden Eigenschaften
stark in der Kritik stehende Glyphosat ist darunter wiederum der
wichtigste Wirkstoff. Bauern nutzen es kurz vor der Aussaat, um
Unkräuter abzutöten, damit danach die Keimlinge schneller hochkommen.
Manche würden den Wirkstoff auch kurz vor der Ernte einsetzen, um für
ein gleichmäßiges Abreifen der Früchte zu sorgen, heißt es in der
Branche. Das ist zwar verboten, aber 12 Millionen Hektar Ackerflächen
kontrollieren – wer kann das schon?
Vertrauen auf Wissen und Gespür
Hecker schüttelt sich bei der Vorstellung, Spritzmittel so kurz vor
der Ernte auf die Pflanzen auszubringen. Zusammen mit rund drei Dutzend
Kollegen, die sich in der Erzeugerinitiative Kraichgaukorn
zusammengeschlossen haben, geht er einen anderen Weg. Er hat die
Lehrbücher zur Seite gelegt und pfeift auf die Tipps und Tabellen der
Berater. Stattdessen vertrauen er und seine Mitstreiter auf ihr Gespür
und das Wissen, das sich in seiner Bauern-Familie über Generationen
angesammelt hat. Auf seinen Flächen hat Hecker den Abstand zwischen den
Ährenreihen verdoppelt. Sie stehen nun bis zu 25 Zentimeter auseinander
statt 12,5 wie bei seinem konventionell wirtschaftenden Konkurrenten.
Und er pflanzt ältere Sorten an. Die bringen zwar nicht die hohen
Erträge wie heutiges Hochleistungskorn, dafür seien sie viel resistenter
gegenüber Krankheiten wie Mehltau oder Braunrost. Unkraut ackert Hecker
um oder striegelt es mit einer recht altertümlich anmutenden Maschine
einfach weg. Gespritzt wird nicht.
„Es ist mehr Arbeit“, sagt der Familienvater. „Und man muss
vorausschauender planen“. Aber es lohne sich. Sein Hof wirtschaftet nach
eigenen Angaben ähnlich profitabel wie ein konventioneller
Vergleichsbetrieb.
Perfekt funktionierendes System
Der Schlüssel, warum Hecker und die übrigen Bauern der bundesweit
einmaligen Initiative auf Spritzmittel verzichten können und dennoch
jedes Jahr ein Plus in den Büchern stehen haben, liegt auch in der
Ersparnis, die sich durch den Verzicht auf teure Ackerchemie ergibt.
Entscheidend ist aber, dass sie um ihr Kerngeschäft – den Anbau – herum
ein perfekt funktionierendes System etabliert haben, das die gesamte
Wertschöpfung bis zur Vermarktung der fertigen Produkte umfasst.
Zu ihrer Erzeugergemeinschaft Kraichgaukorn gehören neben den Bauern
auch ein Kontrolleur, zwei Mühlen, ein Bierbrauer und 40 Bäcker. Sie
alle haben ihr Geschäft auf „vollkommen pestizidfrei“ umgestellt und
garantieren ihren Kunden den komplett regionalen Anbau. „Alle kennen
sich“, sagt Hecker. Verträge würden „per Handschlag“ geschlossen. Jeder
achte darauf, den anderen nicht zu übervorteilen.
Seit nunmehr einem Vierteljahrhundert funktioniert dieses genossenschaftlich anmutende System. Für ihr Getreide,
dass sie auf fast 1300 Hektar in Nord-Württemberg ernten, erhalten die
Bauern rund 30 Prozent mehr Geld, als wenn sie es im Großhandel und
damit auf dem Weltmarkt losschlagen müssten. Die Bäcker wiederum können
sich das teurere Öko-Mehl leisten, weil sie auf Konservierungsstoffe und
Fertigmischungen der Back-Industrie verzichten. Für die berechnen die
Hersteller nämlich Mondpreise. Außerdem – und das ist wohl das
Wichtigste – können sie mit der Marke „pestizidfrei“ wuchern. Und das
lockt die Kunden.
Das Geschäft läuft „sehr gut“
Von Weinheim im Norden bis Sindelfingen im Süden – so weit erstreckt
sich das Bäckernetz der Kooperative – schwören Dutzende
Teigwarenhersteller auf die Idee. In Karlsruhe beispielsweise verkauft
die Bäckerei Reinmuth seit drei Jahren in ihren sieben Filialen
ausschließlich Kraichgaukorn-Getreide aus pestizidfreiem Anbau. Das
Geschäft? Das laufe „sehr gut“, sagt Senior-Chefin Hildegard Reinmuth.
Fast täglich gewinne man neue Kunden hinzu. Kein Wunder: Die
rückstandsfreien Backwaren sind gleich teuer wie bei den Wettbewerbern.
40 Cent kostet ein Brötchen. 70 Cent eine Brezel.
„Wir haben ein
Alleinstellungsmerkmal gefunden, das bei der Kundschaft ankommt“, sagt
Bäckerin Reinmuth und fragt sich, warum in Deutschland nicht alle Bauern, Mühlen und Bäcker
auf chemische Hilfsmittel verzichten und ihre Produkte „pestizidfrei“
anbieten.
Draußen in seinem Kornfeld steht Bauer Hecker, zwirbelt eine
Einkorn-Ähre zwischen Daumen und Zeigefinger und zuckt mit den Achseln.
Eine echte Erklärung hat auch er nicht. Vielleicht fehle die Lobby: Die
klassischen Bauernverbände setzten zu stark auf Bewährtes. Und der
Einsatz von Spritzmitteln zur Ertragssteigerung habe sich nun mal
bewährt. Abweichler würden eher misstrauisch beäugt. Und die
Öko-Verbände? Sie akzeptierten Heckers Ansatz nicht, weil er sein
Getreide in der Vegetationsphase düngt. Das sei gegen die einschlägigen
Anbauregeln.
„Wir sitzen mit unserem Weg einfach zwischen den Stühlen“, sagt er.
Eigentlich sei ihm das alles aber ziemlich egal, sagt der Landwirt. Er
mache eben sein Ding. Und er sei davon überzeugt, dass es gut ist.
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