Seitz Backrohstoffe

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Mittwoch, 19. August 2015

Spritzmittel? Nein danke!

Jedes Jahr setzen deutsche Bauern Tausende Tonnen Spritzmittel ein, um ihre Ernte vor Schädlingen und Unkräutern zu schützen. Auf fast 1300 Hektar Fläche zeigen Bauern aus Nord-Württemberg, dass es auch ohne teure Pflanzenschutzmittel geht. Der Erfolg gibt ihnen recht.


Eppingen - Wenn Reinhard Hecker auf einem seiner Felder steht, dann wird schnell klar, dass er seinen Beruf nicht verfehlt hat. „Sehen Sie sich diese Ähre an“, sagt er dann und zupft an einem Getreide-Pflänzchen. „So filigran und gleichzeitig so kräftig und so gesund. Ein echter Sportler! Fast wie ein Kunstwerk!“


Hecker – Ende vierzig, muskulöse Arme, breiter Akzent – ist kein Philosoph oder Künstler, sondern Landwirt und dabei ziemlich erfolgreich. In seinem Hof, den man auch mit einem südfranzösischen Gut verwechseln könnte, steht ein großer grüner Schlepper, daneben ein bayrischer Geländewagen und ein ebensolches Geländemotorrad. Drum herum erstrecken sich rund 200 Hektar Äcker, die Hecker in vierter Generation bewirtschaftet. Für süddeutsche Verhältnisse ist der Landwirt aus Eppingen im Kraichgau damit ein echter Großbauer. Ein ganz gewöhnlicher Vertreter seiner Zunft ist er aber nicht.

Seine 200 Hektar Land beackert er nämlich komplett ohne Spritzmittel. Weizen, Roggen, Gerste, Dinkel, Emmer und Einkorn gedeihen bei ihm ohne jene chemischen Wundermittel, auf die fast alle seiner Berufskollegen vertrauen, um ihre Ernte im Herbst in die Scheune einzufahren. „Ich mag keine Pestizide“, sagt er. „Ich will ohne sie auskommen.“

Absolute Ausnahme

Ziel der Bundesregierung ist es, auf rund 2,5 Millionen Hektar Äckern – was 20 Prozent der gesamten deutschen Anbaufläche entspricht – ohne Spritzmitteln auszukommen. Wann dieses Ziel erreicht sein soll, wurde offengelassen. „Bewusst“, sagen manche. Denn dass Bauern nicht spritzen, ist die absolute Ausnahme. Selbst im Biolandbau ist der chemische Pflanzenschutz mit Einschränkungen erlaubt.

Bauer Hecker sitzt auf seiner Veranda und wagt eine Erklärung. Wenn man sich normale Felder anschaue, laufe da einiges schief, sagt der Kraichgauer, der seit mehr als 20 Jahren im Geschäft ist. Die Bauern hätten sich zu weit von ihren Wurzeln entfernt, nämlich die Natur zu deuten und den Anbau darauf auszurichten. Ein Beispiel: Das Korn auf den Äckern sei heute viel zu eng gepflanzt, sagt er. Überall stünden die gleichen Sorten. Nach jedem Regen hänge die Feuchtigkeit tagelang an den Pflanzen. Schädlinge und Pilzsporen fühlten sich in so einem Klima richtig wohl, und weil überall das Gleiche angebaut werde, verbreiteten sich Krankheiten rasend schnell in den Feldern. Früher hätte man so etwas nie gemacht“, sagt er. „Aber heute?“ Er zuckt mit den Schultern: „Man kann das ja alles mit Chemie behandeln.“

32 551 Tonnen chemische Wirkstoffe für den Pflanzenschutz wurden im Jahr 2013 nach Daten des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) in Deutschland ausgebracht. Die realen Abgabemengen sind viel höher, weil Trägersubstanzen von der Statistik nicht erfasst werden. Der überwiegende Teil der Mittel wird von Bauern versprüht, ein kleinerer Teil in Gärtnereien oder von Privatleuten eingesetzt. Mit einem Anteil von 40 Prozent nehmen Unkrautvernichter in Deutschland den Löwenanteil ein.

Das derzeit wegen seiner möglicherweise krebserregenden Eigenschaften stark in der Kritik stehende Glyphosat ist darunter wiederum der wichtigste Wirkstoff. Bauern nutzen es kurz vor der Aussaat, um Unkräuter abzutöten, damit danach die Keimlinge schneller hochkommen. Manche würden den Wirkstoff auch kurz vor der Ernte einsetzen, um für ein gleichmäßiges Abreifen der Früchte zu sorgen, heißt es in der Branche. Das ist zwar verboten, aber 12 Millionen Hektar Ackerflächen kontrollieren – wer kann das schon?

Vertrauen auf Wissen und Gespür

Hecker schüttelt sich bei der Vorstellung, Spritzmittel so kurz vor der Ernte auf die Pflanzen auszubringen. Zusammen mit rund drei Dutzend Kollegen, die sich in der Erzeugerinitiative Kraichgaukorn zusammengeschlossen haben, geht er einen anderen Weg. Er hat die Lehrbücher zur Seite gelegt und pfeift auf die Tipps und Tabellen der Berater. Stattdessen vertrauen er und seine Mitstreiter auf ihr Gespür und das Wissen, das sich in seiner Bauern-Familie über Generationen angesammelt hat. Auf seinen Flächen hat Hecker den Abstand zwischen den Ährenreihen verdoppelt. Sie stehen nun bis zu 25 Zentimeter auseinander statt 12,5 wie bei seinem konventionell wirtschaftenden Konkurrenten. Und er pflanzt ältere Sorten an. Die bringen zwar nicht die hohen Erträge wie heutiges Hochleistungskorn, dafür seien sie viel resistenter gegenüber Krankheiten wie Mehltau oder Braunrost. Unkraut ackert Hecker um oder striegelt es mit einer recht altertümlich anmutenden Maschine einfach weg. Gespritzt wird nicht.

„Es ist mehr Arbeit“, sagt der Familienvater. „Und man muss vorausschauender planen“. Aber es lohne sich. Sein Hof wirtschaftet nach eigenen Angaben ähnlich profitabel wie ein konventioneller Vergleichsbetrieb.

Perfekt funktionierendes System

Der Schlüssel, warum Hecker und die übrigen Bauern der bundesweit einmaligen Initiative auf Spritzmittel verzichten können und dennoch jedes Jahr ein Plus in den Büchern stehen haben, liegt auch in der Ersparnis, die sich durch den Verzicht auf teure Ackerchemie ergibt. Entscheidend ist aber, dass sie um ihr Kerngeschäft – den Anbau – herum ein perfekt funktionierendes System etabliert haben, das die gesamte Wertschöpfung bis zur Vermarktung der fertigen Produkte umfasst.

Zu ihrer Erzeugergemeinschaft Kraichgaukorn gehören neben den Bauern auch ein Kontrolleur, zwei Mühlen, ein Bierbrauer und 40 Bäcker. Sie alle haben ihr Geschäft auf „vollkommen pestizidfrei“ umgestellt und garantieren ihren Kunden den komplett regionalen Anbau. „Alle kennen sich“, sagt Hecker. Verträge würden „per Handschlag“ geschlossen. Jeder achte darauf, den anderen nicht zu übervorteilen.

Seit nunmehr einem Vierteljahrhundert funktioniert dieses genossenschaftlich anmutende System. Für ihr Getreide, dass sie auf fast 1300 Hektar in Nord-Württemberg ernten, erhalten die Bauern rund 30 Prozent mehr Geld, als wenn sie es im Großhandel und damit auf dem Weltmarkt losschlagen müssten. Die Bäcker wiederum können sich das teurere Öko-Mehl leisten, weil sie auf Konservierungsstoffe und Fertigmischungen der Back-Industrie verzichten. Für die berechnen die Hersteller nämlich Mondpreise. Außerdem – und das ist wohl das Wichtigste – können sie mit der Marke „pestizidfrei“ wuchern. Und das lockt die Kunden.

Das Geschäft läuft „sehr gut“

Von Weinheim im Norden bis Sindelfingen im Süden – so weit erstreckt sich das Bäckernetz der Kooperative – schwören Dutzende Teigwarenhersteller auf die Idee. In Karlsruhe beispielsweise verkauft die Bäckerei Reinmuth seit drei Jahren in ihren sieben Filialen ausschließlich Kraichgaukorn-Getreide aus pestizidfreiem Anbau. Das Geschäft? Das laufe „sehr gut“, sagt Senior-Chefin Hildegard Reinmuth. Fast täglich gewinne man neue Kunden hinzu. Kein Wunder: Die rückstandsfreien Backwaren sind gleich teuer wie bei den Wettbewerbern. 40 Cent kostet ein Brötchen. 70 Cent eine Brezel. 

„Wir haben ein Alleinstellungsmerkmal gefunden, das bei der Kundschaft ankommt“, sagt Bäckerin Reinmuth und fragt sich, warum in Deutschland nicht alle Bauern, Mühlen und Bäcker auf chemische Hilfsmittel verzichten und ihre Produkte „pestizidfrei“ anbieten.

Draußen in seinem Kornfeld steht Bauer Hecker, zwirbelt eine Einkorn-Ähre zwischen Daumen und Zeigefinger und zuckt mit den Achseln. Eine echte Erklärung hat auch er nicht. Vielleicht fehle die Lobby: Die klassischen Bauernverbände setzten zu stark auf Bewährtes. Und der Einsatz von Spritzmitteln zur Ertragssteigerung habe sich nun mal bewährt. Abweichler würden eher misstrauisch beäugt. Und die Öko-Verbände? Sie akzeptierten Heckers Ansatz nicht, weil er sein Getreide in der Vegetationsphase düngt. Das sei gegen die einschlägigen Anbauregeln.

„Wir sitzen mit unserem Weg einfach zwischen den Stühlen“, sagt er. Eigentlich sei ihm das alles aber ziemlich egal, sagt der Landwirt. Er mache eben sein Ding. Und er sei davon überzeugt, dass es gut ist.

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